In Debrecen machen wir nur kurz Halt, um Emails abzurufen, obwohl die Stadt sicher einen Tag Aufenthalt verdient hätte. Aber der Maggi steht schlecht in einem zwielichtigen Viertel und wir wollen nicht in die Verlegenheit kommen, dort übernachten zu müssen. So bleibt es bei einem Bummel durch die Innenstadt und einem Stück Pizza. Es ist Freitag Abend und Studenten dominieren das Straßenbild. Es gibt viele Cafés, Restaurants und Bars. Das Nachtleben nimmt langsam Fahrt auf, als wir die Stadt wieder verlassen. Wir haben auf der Karte östlich von Debrecen eine waldige Gegend identifiziert, wo wir uns einen Schlafplatz suchen wollen. Es kommt wie es kommen muss. Die Gegend ist total zersiedelt und hinter jeder noch so kleinen Einfahrt versteckt sich ein Wochenendhäuschen oder ein kleiner Bauernhof. Hier können wir nicht bleiben. Nach einiger Suche landen wir schliesslich an einem Feldweg nahe eines Grenzdorfes zu Rumänien zwischen Kohl, Mais und Sonnenblumen. Die ganze Nacht hindurch hören wir die Erntemaschinen arbeiten, aber wunderbarerweise vertreibt uns niemand. Als wir morgens aus der Tür schauen fahren gerade ein Mann und eine Frau auf dem Fahrrad vorbei. Sie haben zum Samstag eine riesige Wassermelone aufgesammelt, auf den Gepäckträger geschnallt und fahren nun zum Schlachten nach Hause. Vielleicht verkaufen sie sie auch.
Nach den wunderbaren Tagen in der Slowakei will Ungarn uns trotz Puszta nicht so richtig packen. Niemand hat uns etwas getan hier, aber irgendwie fühlen wir uns auch nicht zuhause. Das soll sich ändern, sobald wir die rumänische Grenze überqueren. Seit Tagen liegt mir Robert in den Ohren, dass er ein wenig Sorge hat durch Rumänien zu fahren. Er hat in Serbien Zigeuner von ihrer schlechten Seite erlebt und erwartet ein heruntergewirtschaftetes Land voller bettelarmer Zigeuner, die auf fette Maggibeute aus sind. Es kommt ganz anders.
Wir machen uns auf nach Siebenbürgen. Mein lieber Freund Micha hat seine Wurzeln in Siebenbürgen in der Nähe von Sebes, Mühlbach, und mit ihm und seiner Mutter Christa war ich vor etwa 10 Jahren schon einmal dort. Ich habe in Erinnerung, dass die Menschen auf den Dörfern lebten wie vor 100 Jahren in Deutschland. Sie ziehen ihr Wasser aus Brunnen, fahren mit Pferdekutschen statt Traktoren auf die Felder und essen und trinken von dem, was ihr Garten und ihre Tiere hergeben. Wie überrascht bin ich, als wir dann am jetzigen Sebes vorbeifahren. Vor 10 Jahren gab es einen einzigen kleinen Supermarkt mit wenigen Westprodukten darin und eine Ein- und Ausfallstraße. Heute verfügt Sebes über ein großes Industriegebiet, nagelneue Asphaltstraßen und Pferdegespanne sind weit und breit nicht auszumachen.
Die landschaftliche Schönheit ist dennoch genau so wie in meiner Erinnerung. Ein kleines Paradies aus sanften Hügeln, bewirtschaftet, aber weitläufig, durchzogen von kleinen Dörfern. Jedes ausgestattet mit einstöckigen quadratischen Häusern. Dicht gedrängt stehen sie aneinander und unterscheiden sich meist nur durch die typischen verschnörkelten eisernen Tore in bunten Farben. Wo Deutsche wohnten sind die Häuser etwas größer und die Höfe haben geschnitzte Holztore. Vom Magirus aus kann man auch in die Innenhöfe schauen. Sie sind sich auch alle ähnlich: Innenhof mit schattenspendender Pergola aus Wein und Brunnen, Scheune mit Durchgang zu Garten und Hühnerstall, manche mit Kuhstall, manche mit Schweinestall. Die meisten von einem leider oft schlecht behandelten Kettenhund bewacht.
Wir wollen nach Herrmannstadt, für das sich Robert besonders interessiert, da einer seiner früheren Arbeitgeber, Büro Krekeler, ein Büro dort eröffnet hatte und den Dom restaurieren wollte. Wieder haben wir von Debrecen aus eine eher kleine Straße gewählt, was sich allerdings in diesem Fall als schlechte Wahl entpuppt. Über die kompletten 140 Kilometer hinweg ist die Straße aufgerissen. Ein ständiges Stop and Go. Anlass ist vermutlich europäisches Geld, das zur Verfügung gestellt wird, um die Unterspülung der Straßen zu unterbinden. Das ist zwar dringend notwendig, aber doch nicht auf der gesamten Strecke gleichzeitig? Es gibt auch gar keine Maschinen auf der Strecke, mit denen daran gearbeitet werden könnte? Vielleicht rechnen die Verwaltungen damit, dass, wenn die die Straßen erst einmal aufgerissen sind, auch das Geld zum verschließen wieder irgendwo herkommen wird. Anstatt also Kilometer für Kilometer auszubessern, brechen sie einfach die ganze Strecke auf. Unzählige Ampeln, Warnbaken und Pericol-Schilder später brechen wir etwa 40 km vor Herrmannstadt die Fahrt ab und fahren einen Hügel hinauf und weiter hinauf und hinauf und hinauf, schließlich von der Asphaltstraße auf eine frisch angelegte Schotterstraße und dann noch ein bisschen hinauf.
Wir sind stumm vor Staunen, als wir dort oben aussteigen und die Ruhe und den Blick in die grünen Täler auf beiden Seiten genießen. Die Dörfer bestehen hier aus 10 bis 20 Häusern, dazwischen sind Obst- und Gemüsegärten angelegt und im Hintergrund sieht man bereits die Karpaten. Als wir noch überlegen, ob der Maggi gerade genug steht um einen Kaffee zu kochen, kreuzt ein Mann mit seiner Kuh unseren Weg. Wir kommen ins Gespräch, er auf Rumänisch, wir in allen uns bekannten anderen Sprachen. Weit kommen wir damit nicht, denn der Mann spricht Rumänisch only. Wie sich später herausstellt ist er ein ehemaliger Bergarbeiter und genießt auf dem Berg zusammen mit seiner Frau seinen Ruhestand.
Er kann sich einfach nicht vorstellen, dass wir aufgrund unserer Latein- und Italienischkenntnisse weit mehr Rumänisch verstehen als wir sprechen können (das ist auch nicht schwer, sprechen können wir ungefähr 10 Worte). Er erklärt und erklärt und erklärt und wir verstehen ihn auch, aber er glaubt uns nicht. So beschliesst er, jemanden anzurufen, der übersetzt. Er winkt uns zu seinem kleinen Hof heran, wo seine beiden Kinder, um die 30, und seine Frau warten. Alle sind gerade von einer Geburtstagsfeier zurückgekommen. Die jungen Leute interessieren sich leider nicht sonderlich für uns. Sie steigen schnell ins Auto und fahren zurück nach Deva, wo sie leben und lassen uns mit den beiden Alten zurück.
Nun haben wir schneller als gedacht Land und Leute kennengelernt. Noch vor dem ersten selbstgebrannten Palinka fragt der Rumäne, ob wir über Nacht bei ihm bleiben möchten. Denn in Rumänien darf man keinen Alkohol trinken und dann noch Auto fahren. Wir hatten ohnehin so etwas im Sinn und bejahen. Robert rangiert vor dem Hof des Mannes hin und her, bis er gerade steht und dann geht es los mit dem ersten Pflaumenschnaps, dem ein weiterer und noch einer folgen sollen. Leider haben wir heute nur gefrühstückt und der Schnaps, aus einer kleinen Platsikflasche von irgendwo hinter der Scheune wundersam immer wieder neu befüllt, wirkt. Schnell laden wir den Rumänen in den Maggi ein zu einer Brotzeit und einem Gegenschnaps, Obstler und Kräuter aus Alt-Ruppin.
Sein Ehrgeiz ist nun endgültig geweckt, er telefoniert und telefoniert und schliesslich hat er jemanden am Apparat,der fließend deutsch spricht, mit österreichischem Akzent, einen rumänischen Freund, vermutlich der Sohn eines Kollegen von ihm, der in Österreich gearbeitet hat. Wir sollen an diesem Abend noch oft mit ihm sprechen. Immer wieder zückt der Rumäne seinen kleinen Notizblock, auf dem er die Nummer notiert hat, und sein Mobiltelefon, um sich von dem Deutsch sprechenden Mann übersetzen zu lassen, was wir erzählen oder uns seine weiteren Fragen wissen zu lassen. Zwischendurch trägt seine Frau herbei, was sie von der Geburtstagsfeier mitgenommen haben, Hühnchen in Tomatenpaprikasauce, Brot und Kuchen (ich und Paprika….ich habs trotzdem gegessen….). Und beide lassen nicht locker, bis wir auch wirklich alles verzehrt haben. Selber essen sie nichts mehr, was uns zuerst ein schlechtes Gewissen macht. Wir fragen uns, ob wir das Sonntagsessen der beiden gegessen haben. Aber ein Telefonat mit dem Österreicher später wissen wir, dass beider Bäuche kugelrund sind vom Geburtstag und sie einfach nichts mehr essen können.
Später zeigt der Rumäne Robert sein kleines Anwesen, den Stall, das Schwein, die Kuh, den Hund. Und wir zeigen den Magirus von innen, die Wasserpumpe, den vielen Stauraum, das Bad, das Licht darin. Selbst seine Frau, sonst eher in der Küche zurückgezogen, lässt sich von mir überreden, einzusteigen und sich umzuschauen. Ein ganzes Haus ist das, sagt sie und staunt.
Viel zu gefährlich da draußen zu stehen, sagt der Rumäne und sagt, Ihr müsst bei mir drinnen stehen, dann passiert Euch nichts. Ich tue Euch nichts, seid meine Gäste. Und wäre es wohl eigentlich lieber gewesen, nicht in seinem Hof zu stehen, um autark zu sein und die Herumkurbelei den Berg hoch um die Ecke zu vermeiden. Aber wir kommen nicht darum herum, den Magirus auf den Hof des Rumänen zu fahren um dort zu übernachten. Er überragt das Wohnhaus der beiden und gerade so reißt er nicht das Stromkabel herunter. Der Hund bellt und bellt, aber irgendwann hat er sich an den orangenen Riesen gewöhnt und legt sich schlafen.
Die spannendste Frage des Rumänenen macht uns auch gleichezitig ein wenig rat- und sprachlos. Nachdem wir schon einige Stunden zusammen am Tisch vor der Küche in seinem Hof sitzen und Palinka trinken fragt er Robert, sag einmal, wie ist denn das eigentlich bei Euch, wenn Du Besuch von einem Mann hast? „Para noi…“, das sagt er oft, also „bei uns“, Wenn ich ein Glas herunterwerfe und es zerbricht, dann rufe ich meine Frau und sie räumt alles wieder auf. Dann geht sie wieder, bis ich sie das nächste Mal rufe. Mein Freund und ich wir sitzen dann zusammen hier am Tisch und trinken und essen. Aber meine Frau, die ist nie dabei.
Robert schluckt und schaut mir in die Augen. Ich schlucke auch. Aber hier ist eindeutig er und nur er angesprochen. Er sagt, wenn ich mein Glas herunterwerfe, dann hebe auch ich es wieder auf. Ist doch klar. Und, wenn ein Freund zu Besuch ist, dann sitzen wir alle zusammen am Tisch und essen und trinken. Und wir kochen auch zusammen, oder doch zumindest es kocht derjenige, der gerade Lust hat oder der das Gericht am Besten kochen kann. Das kann er nicht glauben der Rumäne. Immer wieder fragt er nach, nun auch bei mir. Er sagt, es stört ihn nicht, dass ich dabei sitze. Aber er kennt es eben nicht. Ich frage mich, ob ich zu der Frau in die Küche gehen sollte. Ohnehin ist sie schneller von Begriff als er. Eine komische Situation. Ich entscheide mich gegen die Frau und versuche zu erklären, dass wir die gleichen Rechte und Pflichten haben. Dass ich einen Beruf habe und arbeiten gehe. Dass ich Geld verdiene, normalerweise jedenfalls. Und obwohl das meine ganz alltägliche Realität ist, fühle ich mich von dem Moment an irgendwie unpassend und nicht mehr ganz so willkommen am Tisch.
Darüber denke ich noch 24 Stunden später nach. Schon oft ist mir aufgefallen, dass es mit der Gleichberechtigung schon wenige Kilometer von den Großstädten entfernt auch in Europa nicht weit her ist. Eigentlich schon wenige Wohnzimmertische weiter. Ich frage mich, warum ich mich sofort habe rechtfertigen müssen. Warum mein Argument dafür, dass ich „bei den Männern sitze“, ist, dass ich arbeite und einen Beruf habe. Dürfte ich denn nicht dort sitzen, wenn ich keinen Beruf hätte und nicht arbeiten würde? Die Frau des Rumänen hat auch gearbeitet, ihr Leben lang. Sie hat den Hof gepflegt, die Hühner gefüttert, die Kuh versorgt, das Schwein gemästet und überhaupt wahrscheinlich lange Jahre jeden Tag essen für Tochter und Sohn und Mann zubereitet. Ist schließlich auch Arbeit. Aber offenbar selbst in meinem Verständnis keine, die selbstverständlich dazu führt, dass sie „mit den Männern am Tisch sitzen“ kann? Warum interessiere ich mich denn auch gar nicht für sie? Warum habe ich mich keine Sekunde lang gewundert, dass wir zu Dritt und nicht zu Viert am Tisch sitzen? Warum habe ich mich nicht gefragt, warum sie nie das Wort ergreift? Vielleicht sitzt sie seit Stunden in der Küche, ist neugierig und wartet darauf, dass sie sich unterhalten kann? Das ist mir fremd und in keinem Moment wäre ich darauf gekommen. Aber vielleicht war es so? Aber was hätten wir uns dann erzählt? Was erzählen sich Frauen, die ihr Leben lang zuhause waren, Kinder groß gezogen haben und Hühner gefüttert und die nie mit ihrem Mann am Tisch sitzen konnten, wenn jemand zu Besuch kam? Was hätte mir die kluge Frau des neugierigen Rumänen zu sagen gehabt? Hätte sie sich überhasupt getraut, mit mir darüber zu sprechen, was sie betrifft?
Wenn ich beim Schreiben nun nochmals darüber nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass mir das Verhalten so ganz fremd nun auch wieder nicht ist. Wie oft habe ich in Männerrunden gesessen und mich gelangweilt, weil die Dinge, die mir wichtig erschienen wären, nicht besprochen wurden. Und später waren es dann genau diese Themen, die wichtig gewesen wären, um eine gemeinsame Sache zu verbessern oder zum Gelingen zu bringen? Wie oft habe ich gedacht, die Dinge müssten anders sein, aber das identifizierte Problem nicht angesprochen? Wie oft bin ich verstummt, weil meine Argumente nicht verstanden wurden, nachher wäre aber genau das der Punkt gewesen, der noch gefehlt hat?
Warum immer dieses gehört werden müssen, anstattt sein eigenes Ding zu machen?
Ich muss zugeben, dass ich mir schwertue damit, die Gleichheit von Mann und Frau nicht mit Gleichmacherei zu verwechseln. Eine anderen Lebenswnturf als Bereicherung zu verstehen, nicht als Bedrohung. Ein Leben, das nicht unter Ausübung eines Berufes verbracht wurde, als ebenso reich an Erfahrungen und Weisheit zu verstehen, wie andersherum. Nach wie vor fehlt es an Rollenmodellen und Beispielen, wie diese Gleichheit gelebt werden kann, bis es dazu kommt, dass diese scheinbar selbstverständliche Gleichheit nicht mehr durch einige einfache Fragen von einem rumänischen Bergbaurentner – wenn auch nur kurzzeitig – zu erschüttern ist.
Und noch eins ist sicher: solange Frauen im Westen einfach nur verweigern, traditionelle Frauentätigkeiten zu verrichten, so wie ich es lange tat, wird sich nichts am Verständnis und Selbstverständnis von Frauen und Männern ändern. Erst wenn Frauen ihren Platz so selbstverständlich wie eigenständig und durchaus auch wagemutig zu erforschen und erobern bereit sind, werden die Verhältnisse sich wirklich verändern. Initiative statt Verweigerung.
Ein Beispiel? Ich hätte den Rumänen schließlich auch fragen können, warum seine Frau nicht mit am Tisch sitzt und ob wir sie dazuholen wollen. Und dann mal sehen, was er dazu zu sagen hat.
Die Frage ist, ob das nach gerade mal 100 Jahren Emanzipationsgeschichte, die auf viele Jahrhunderte abhängigkeit von männlicher MAcht und Einkommen folgte, wirklich schon zu erwarten ist. Andererseits, ist ein Gedanke in der Welt, dann ist er auch realisierbar und irgendwer muss ja den Anfang machen.