Nach langer Schreibpause rollen wir jetzt das Feld von hinten auf. Es gibt unmengen Fotos aus den letztn zwei Wochen, sie sind auch schon sortiert, allein die Texte dazu gibt es noch nicht.
Wir sind gestern nach zwei Autobahntagen am Schwarzmeer entlang bei Hopa in die Berge abgebogen und kommen seither aus dem Staunen nicht mehr heraus. Im Moment ist es 18:20 und stockfinster.
Wir sitzen im Maggi und haben einen Becher Pfefferminztee und ein Glas Raki vor uns. Morgen früh werden wir zum einen Fenster heraus auf grüne terassierte Wiesen und grasende Kuhherden vor steil aufragenden Bergsilhouetten schauen und uns wie in der Schweiz fühlen und zum anderen Fenster heraus werden wir auf das im Umbau befindliche Gemeindezentrum schauen, das zwar vollkommen leer steht, an dessen Fassade natürlich trotzdem ein Portrait-Relief von Atatürk prangt und wissen, dass wir zwar wengige Kilometer vor der georgischen Grenze sind, aber eindeutig noch in der Türkei und zwar in Cevizli in Nordostanatolien. Damit wir das auch wirklich nicht vergessen können, flattert daneben hochauf an einem kleinen rostigen Mast eine türkische Fahne.
Cevizli ist ein winziges Bergdorf auf einer Hochebene, in dem als neben dem Minarett höchstaufragendes Bauwerk eine sehr verfallene
georgische Kirchenruine aus dem 9. Jahrhundert steht. So sagte es unsere Karte an und so haben wir es vorgefunden. Umrahmt wird die Ruine von einem Stück grüner Wiese, von welcher durch einen Stacheldrahtzaun die Kühe ferngehalten werden. So kann man super Fußball spielen auf dem schönen unverdungten Rasen, wovon zwei alte Ruinensteine, die als Tor dienen zeugen. Auch zum herumpicken eignet sich die Wiese gut, eine Anzahl kleiner Hutzelhühnchen pickt aufgeregt umher, eines ist sogar ein Pilzgourmet.
Neben dem Gelände gibt es ein liebevoll hergerichtetes Büdchen mit einem metallenen Torverschlag,in dem Ayse und ihr Mann so etwas wie den Spätkauf und die Dorfteestube von Cevizli betreiben. Über der Tür prangt ein elektrisches Fließbandschriftschild wie aus einer anderen Welt, heißt die Gäste willkommen (Hos Geldiniz) und preist Frühstück an. Durch die Plexiglasscheibe der Teestube kann man verschwommen den Hütehund, dem in einer umgefallenen Mülltonne ein Hüttchen eingerichtet wurde, den hauseigenen schwarzen Ziegenbock Pascha, der an den Resten der Sonnenblumenstengel knabbert und das mehrstöckige Hühnerhaus ausmachen.
Ayse winkt uns gleich zu sich, noch bevor wir einen Blick auf die Ruine erhascht haben und lockt mit Cay. Wir schießen um die Wette Fotos von der im Abendlicht romantisierenden Ruine und kommen dann der Einladung zum Tee nach, da wir spät dran sind und noch einen Stellplatz für die Nacht brauchen. In einem solchen Fall trinkt man tatsächlich am Besten erstmal einen Cay und sucht das Gespräch. In diesem Fall ist das nicht ganz so schwer wie üblich, da Ayses Mann ein klitzekleinwenig Deutsch und Englisch spricht und beide gute Pantomime-Interpretatoren sind. Zwischen unseren Füßen rennen laut fiepende Hühnerküken umher und Ayses Mann sagt „original, original“.
Irgendwie verstehen wir uns, obwohl unser Türkisch sich auf etwa 20 Worte beschränkt. Wir verewigen uns in einem dicken Gästebuch, dem Stolz der Gastgeber, aus dem hervorgeht, dass hier häufig Besucher vorbeikommen, Ayse sagt, aus aller Welt, wir glauben vor Allem aus Georgien. Die letzten waren erst vorgestern da. Dann entdecken wir einen Bildband der Gegend, darin auch kulinarische Besonderheiten, im Foto festgehalten und sofort läuft uns das Wasser im Munde zusammen. Robert hat Hunger, er will etwas von den Bildern essen und zeigt wild gestikulierend darauf herum. Schließlich bekommen wir tatsächlich einen großen Teller Peynir vorgesetzt. Das sind keine Linsen wie ich dachte, sondern eine sehr leckere Käsesuppe. Dazu gibts Tomaten und Paprika aus dem Garten, Brot und Oliven. Sehr sehr lecker und eigentlich nicht vorgesehen im Büdchenprogramm wie sich herausstellt, denn die Gastgeber essen genüsslich auch einen Teller voll Peynir mit uns gemeinsam. Stetig ruft es von der Strasse aus Ekmek und Ayse eilt zum Brotverkauf nach vorne. Bis sie die Nase voll hat und ihren Mann schickt, der uns erklärt, dass Ayse der Patron im Hause ist, also, der große Patron. Er selber sei der kleine Patron. So ganz kann das nicht stimmen, denn später zieht er ein riesiges Geldbündel aus der Hosentasche. Aber selbstbewusst und ehrlich fröhlich und offen wirken beide und so als ob sie sich gut verstehen, wie Partner, nicht wie ein typisches Paar auf dem Dorf, wo die verschleierte Frau zwei Meter hinter ihrem Mann herläuft, obwohl auch zwischen ihnen beiden über 20 Jahre altersunterschied liegen.
Heute über Tag haben wir einen Abstecher in die Berge gemacht, zur Porta Kililise, einer Kirchenruine. Unser Reiseführer spricht von einem einfachen Weg, 2 km, 30-60 Minuten. Wir sind schliesslich etwa 3 Stunden unterwegs und finden den Weg supergrandios, aber sicher nicht einfach, keine 2 km und deutlich mehr als 60 Minuten Laufweg. Typisch Türkei.
Den Maggi lassen wir im Tal am Fluß stehen. Selber steigen wir einem braunen Schild folgend einen steilen rotgerölligen Ziegenpfad empor. Nach gefühlten 10 Minuten sind wir etwa 60 Meter aus dem Tal aufgestiegen und es soll noch einige Zeit weiter steil nach oben gehen. Um uns herum mehrere für die Gegend typische spitzkegelige sparsam mit in allen Herbstfarben leuchtenden Laubbäumen bewachsene 1000er. Zwischen den Bäumen schimmert der Fels grün, rot und gelb hervor. Schroff fallen die kargen Felswände ab, das Gestein ist bröckelig. Mehrfach haben wir heute gesehen, dass Strassen erst kürzlich vom Steinschlag über 10-20 Meter hinweg mit ins Tal gerissen wurden.
Nach einigem Suchen erreichen wir schliesslich über einen schmalen Trampelpfad an einem kleinen Rinnsal entlang ein fast verlassenes Bergdorf, das an, in und um die Klosterruinen erbaut wurde. Der Platz für Häuser und Terassengärten wurde dem Berg einst mit harter Arbeit abgerungen. Die Häuser bestehen im Erdgeschoss aus Felsteinen, darüber abgeflammte Holzplanken, die Zwischenräume mit Dung gefüllt. Im ersten Stock dann ein Raum mit Holzplanken als Fußboden und den schon bekannten abgeflammten Brettern als Wänden und Türen, glaslose Fenster, nur Holzverschläge. Es bewegt sich nichts, kein Hund bellt, keine Tür geht, keine Kuh, keine Ziege weit und breit, kein Geräusch, ausser dem Plätschern des Flüsschens. Mitten im Gewimmel aus kleinen Fußwegen, Häusern, Tierverschlägen, Terassengärten und dem uralten noch aus der Klosterzeit stammenden Brunnen steckt die alte Klosterruine. Sie wurde umwohnt, wurde integriert in die Dorfstruktur. Vor dem alten Hintereingang befindet sich ein Grillplatz, neben dem am besten erhaltenen Seitenflügel hat jemand liebevoll so etwas wie einen kleinen Ziegengarten angelegt und herabgefallende Steine aus der Ruine werden benutzt, um das Wellblechdach des benachbarten Hauses zu sichern.
Ein eigenartiger Ort, völlig aus der Zeit gefallen. Nur einige Stromverteiler und Satellitenschüsseln bezeugen, dass es vor nicht allzulanger Zeit noch Leben im Dorf gab. Es fällt uns schwer, uns vorzustellen, wer hier bis vor Kurzem gelebt haben soll und wie das Leben ablief. Das karge Land gibt wenig her, auch wenn das durchs Dorf fließende kleine Rinnsal eine kleine Oase geschaffen hat. Ein Biotop, in dem alles wächst, was man zum Leben braucht. Aber eben auch nicht mehr. Leben die Menschen hier wirklich nur von dem was ihr Garten hergibt? Was tun sie im Winter? Im letzten Tal haben wir gesehen, dass die Menschen beginnen das Holz für den Winter zu schlagen. Aber hier gibt es nur wenig Holz und der Reiseführer sagt, es liegen bis zu 2 Meter Schnee im Winter. Unvorstellbar, dass man dann noch herab ins Tal kommt. Weder zu Fuß noch mit dem Auto. Etwas unterhalb des verlassenen Dorfes steht noch ein bewohntes Haus, ebenfalls am Hang mit großem Garten am Fluß. Uns gehen die Augen über, als wir sehen, was hier alles wächst. Kirschen, Birnen, Pflaumen, Orangen, Tomaten, Mais, Kürbis, Feigen, Khaki, Nüsse, Bohnen, Wein, Hopfen, Paprika. Dennoch, wer kommt auf die Idee, sich ein zugiges kleines Holzhaus auf 900 Meter am Berg zu bauen, kaum zugänglich schon im Sommer,im Winter vermutlich eingeschneit und dort der Bergeinsamkeit einen solchen Garten abzuringen, vermutlich über viele Jahre hinweg?
Im Herabsteigen vom Berg un lautstarken Gezeter pflückt Robert waghalsig auf den Zehen balancierend einige leckere kleine Feigen und drei Granatäpfel, die wir uns munden lassen und sammelt ein wenig Holz in der Hoffnung darauf, dass wir den letzten leckeren Meerfisch, der noch in unserem Kühlschrank lagert, wie schon gestern auf einem Holzfeuerchen grillen können. Aber nun sitzen wir ja hier auf dem Berg, vorne die Schweiz, hinten die Türkei und studieren die weitere Reiseroute. Mit dem Feuer wird es also heute nichts mehr.