Stippvisite in Moldawien

Moldawien? Was willst Du denn da?
Mich für einen Job bewerben.
Einen Job? Ist das Dein Ernst?
Klar ist das mein Ernst, sonst würde ich ja nicht hinfahren.
Aha, und worum gehts da?
Für ein deutsches Kulturinstitut deutsche Kultur nach Moldawien holen.
Aha.
Ja.
Interessant.
Find ich auch.
Und Du willst da echt hinziehen?
Anders geht es ja nicht, oder?
Aha.
Aber ich schau mir das erstmal an, wenn mir die Stadt nicht gefällt,mach ich das nicht.
Na dann, ich bin gespannt zu hören wie es war.
OK, ich schreib einen Artikel im Blog.

Moldawien ist ein eigenartiges Land, sehr klein, mit seiner kaum bekannten Hauptstadt Chisinau. Die meisten Europäer werden wohl denken, dass Moldawien zur Ukraine oder zu Rumänien gehört. Dass es sich um ein eigenständiges Land handelt werden wenige wissen. Ist aber so. Vor ein paar Jahren gab es einen Putsch der Kommunisten, aber im Moment geht es wieder sehr demokratisch zu. Die meisten Moldawier haben das Land ohnehin in Richtung Moskau oder Bukarest oder Wien verlassen und schicken nur noch Geld nach Hause, mit dem die kleinen Häuschen der Vorstädte in Stand gehalten werden.

Mein Hostel liegt in einem Vorstadtviertel. Einfamilienhaus reiht sich an Einfamilienhaus. Eigentlich ist das hier gar keine Gegend für Touristen und so schaut der eine oder andere Bewohner des Viertels mir und meinem Rucksack fragend hinterher. Aber noch bevor ich wirklich unsicher werde, ob ich richtig bin, erreiche ich auch schon das Haus. Es hängt kein Schild daran und es gibt keine Klingel. Aber eine kleine graue Katze begrüßt mich und auf mein Klopfen hin öffnet Igor* die Tür.

Und schon bin ich mitten in einer Gruppe von Glücksrittern gelandet: Da ist zuerst mal der Besitzer, der fließend Deutsch mit starkem österreichischem Akzent spricht. Er betreibt das Hostel und lebt auch selber hier. Seine Eltern leben in Österreich und auch er hat dort Wirtschaft studiert, wollte nach dem Studium aber wieder zurück nach Moldawien. Und so hat er das Hostel eröffnet, in dem die Tür immer offen steht.

Dann ist da Igor*, sein Helfer. Igor* ist Ukrainer, Anfang 20. Es geht ihm nicht gut, er steckt in Chisinau fest und kommt nicht weg. Er wollte nicht zum Militär, ist deshalb nach Europa gereist. Dort hat er sich in den Kopf gesetzt in die USA auszuwandern. Dafür musste er nach Moskau. Um sein Leben und das Visum zu finanzieren nimmt er dort illegale Arbeit an. Er wird erwischt und ausgewiesen. Sein Visum für die USA ist abgeleht worden. In der Ukraine kann er nicht bleiben, also reist er mit Touristenvisum wieder nach Europa. Er stellt einen Visumsantrag für Großbritannien. Abgelehnt. Nun muss er zurück in die Ukraine. Erst in 6 Monaten kann er erneut ein Visum beantragen. In einer kopflosen Aktion flieht er über die Grüne Grenze nach Moldawien. Hier ist er nun und kann nicht vor und nicht zurück.

Dann gibt es da Jacob*, NewYorker, verurteilter Totschläger, nach vielen langen Jahren hinter Gittern wollte er einen Neuanfang in den USA wagen. Aber niemand hat ihm eine Chance gegeben. Also ist er nach Europa gekommen und hat sich den Ort ausgesucht, wo die Immobilienpreise am günstigsten sind. Er will ein Apartment kaufen, eins mit zwei Balkonen, auf die er immer hinaustreten kann, Arbeit in einem englischsprachigen Callcenter finden. Er spricht kein Wort Rumänisch, geschweige denn Russisch. Im Allgemeinen spricht er sehr wenig, aber er lässt sich gerne von uns überreden mit in die Stadt zu kommen und trottet zufrieden hinter uns anderen her. Er mag Chisinau und freut sich darüber, endlich neu anzufangen.

Und dann ist da noch Aline*, Anfang 20, Französin, Dreadlockträgerin, aus intellektueller Familie. Sie möchte Tatookünstlerin werden. Sie hat Leute getroffen, die ihr ein Praktikum in einem Tattooladen in Chisinau angeboten haben. Sie ist wissbegierig und hat die Chance beim Schopfe ergriffen. Ohnehin ist ganz Europa ihre Heimat. Sie reist seit sie Volljährig ist und hat in jedem europäischen Land Freunde, mit denen sie täglich über facebook korrespondiert. Sie ist aufgedreht, neugierig und stark politisiert. Sie redet ohne Punkt und Komma und hält mit ihrer nie endenden Energie die ganze eigenartige Truppe zusammen. Leider hat sich das Praktikum als Ladenhüten herausgestellt, so hat sie geschmissen. Jetzt zeichnet sie im Hostel bis sie Ende Dezember wieder nach Frankreich fährt. Als sie von den Attentaten in Paris erfährt weint sie vor Zorn und Trauer. Ich weine mit ihr.

Wir erkunden zwei Tage lang meine potentielle neue Heimat, inspizieren jeden Hinterhof, den einzigen Club der Stadt, den alten sowjetischen Vergnügungspark, das georgische Restaurant, wo wir dann noch einen New Yorker Glücksritter auflesen, Mitte 50, Volunteer bei der UN, derzeit in Syrien stationiert. Im Moment auf Urlaub.

Tatsächlich hat Chisinau die Hauptstadt sehr sehr wenig zu bieten, was der Rede wert wäre. Das Aufregendste ist eigentlich diese eigenartige Nichtaufgeregtheit, die sprödegraufenstrigen Hinterlassenschaften der Sowjetzeit, die sich mit Jahrhundertwendbürgerhäusern die schachbrettartig angelegte Innenstadt teilen. Das Vor-sich-Hinleben der Moldawier, die beschauliche Stimmung.

Chisinau war eine Soldatenstadt. Die Innenstadt, die sich um eine ehemalige Sowjetpalastplatte und einen deplaziert wirkenden Triumphbogen windet, wird überstrahlt vom McDonaldgelben Neonlicht. Nebenan das Historische Museum im Renaissancebau. Ohne Unterlass fahren Busse jeder Größe die viel zu breiten Hauptstraßen herauf und herunter und auf der Einkaufsstrasse herrscht zu jeder Tageszeit reger Betrieb. Keine 500 Meter entfernt beginnt einer der vielen schönen Parks der Stadt mit großem See und alten Bäumen. Dahinter gammelt die sicherlich einst als Renommierprojekt geplante Expo des Landes vor sicht hin. Einzig das 5stöckige Gerippe einer Hotelbauruine stört das Waldseeidyll.

Alle internationalen NGOs sind vor Ort. Wie in Drittweltstaaten üblich haben sie die Villen der ehemaligen Bonzen gekauft und hissen dort ihre blauen UN Fläggchen, Nationalfahnen, Stiftungswappen und HierparkenLimousinenderFriedrichebertStiftungReserviertSchilder, bewacht von gelangweilten Soldaten in der Paradeuniforn des jeweiligen Landes. Sobald man die innere Innenstadt verlässt sieht man überdimensionierte Autozubringer, große Plattenbausiedlungen, heruntergekommene halbverfallene Kirchen und andere Prachtbauten, von denen die Natur wieder Besitz ergriffen hat. Geht man noch ein wenig weiter, beginnen die Industrieviertel, in der Hauptsache Baugewerke und Autowerkstätten sowie landwirtschaftliche Maschinen und Betriebe. Und dann kommt Natur. Frisch gepflügte Äcker strotzend vor dunkelbrauner Krume, darauf sammeln sich die letzten Vogelschwärme vor dem Abflug nach Süden, weiter Himmel, breite Straßen ohne Gehwege und klappernde LKWs, die im Vorbeifahren roten Staub aufwirbeln.

Nachdem es fast den ganzen dritten Tag geregnet hat besuche ich im Abendlicht den Zentralfriedhof von Chisinau. Ich verlasse das beschauliche Vorstadtviertel, in dem mein Shared Bedroom Hostel liegt, zu Fuß in Richtung Nord. Laufe sehr zur Verwunderung der Minibusfahrer der Linie 731, die Hauptausfallstraße entlang und erreiche irgendwann den Eingang des größten Friedhofs, den ich je gesehen habe. Er erstreckt sich kilometerweit über einen Hügel, Grab an Grab, Kreuz an Kreuz und – wie auf Friedhöfen der Orthodoxen Christen nicht unüblich – Picknickbank an Picknickbank. Dort lassen sich die Hinterbliebenen nieder, wenn sie ihre Verstorbenen besuchen und tischen die leckersten Köstlichkeiten auf. Sie essen gebratene Hühnchen und Kichererbsenpasten, eingelegte Paprika und viel frisches Brot und trinken Unmengen Wodka aus Plastikbechern dazu. Sie verweilen bis alles aufgegessen ist. Dann gehen sie wieder nach Hause.

In die Grabsteine aus Granit sind nicht nur Name, Geburts- und Todesdatum graviert, sondern auch detailgenaue Fotos der Verstorbenen, die sie in den Posen zeigen, wie sie sich selber am liebsten gesehen haben oder vielleicht auch, wie ihre Liebsten sie gerne gesehen haben. Da sind Rosen und Haustiere, 50er Jahre Amischlitten und Traumhäuser, Bücher und Ferngläser eingraviert. Stundenlang könnte ich mir die Grabsteine ansehen. Meine Phantasie macht Bocksprünge vor Freude über die vielen Geschichten, die sie sich ausdenken darf.

Ja, so ist das am Ende der westlichen Welt.

Den Job wollte ich nach dem Bewerbungsgespräch übrigens nicht mehr haben.

*Die Namen meiner Glücksritterfreunde habe ich geändert.

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